Thomas Freyer
Amoklauf mein Kinderspiel
Staatstheater Kassel 2009 • Bühne/Kostüme: Valentina Crnkovic
Theater kann schmerzhaft sein. So schmerzhaft wie die sich steigernde aggressive Musik, das Rennen auf der Bühne, das sich Hochschrauben der Gewaltbereitschaft. Zum Schluss richten die drei ihre Hände wie Pistolen ins Publikum, hocken unter dem rot-weißen Absperrband am Tatort, schreien immer wieder: "Ich habe Angst. Schießt endlich!"
Schießt endlich!" Nach dem Ende des Stückes, Beklemmung, Irritation: Wie klatscht man hier Beifall? Thomas Freyer, 27-jähriger Autor aus dem Osten, hat mit "Amoklauf. mein Kinderspiel" Realität nachgestellt, simuliert. Erfurt ist nah. Im ersten Teil werden die Spuren der Entstehung bloßgelegt. Zwei Jungen und ein Mädchen ersticken fast an familiärer und gesellschaftlicher Nachwendeatmosphäre. Kein Stück Identität, kein Stücken Heimat, Eltern und Lehrer im Niemandsland. In Kassel, auf der kleinen Bühne des Theaters im Fridericianum (tif), hängen Schulstühle wie Schaukeln über dem Boden, besetzt mit Puppen (Bühne: Valentina Crnkovic). Kein Boden unter den Füßen, nur Schwanken.
Regisseur Alexander Schilling lässt die drei, Anke Stedingk, Frank Richartz und Thomas Sprekelsen mal im Chor sprechen, mal einzeln, sie spielen zugleich Erwachsene und Kinder - mit unglaublicher Konzentration, Überzeugungskraft und Wucht, eine großartige Leistung. Die schnellen Bilder überlappen sich, Grenzen werden aufgehoben. So vermeidet Schilling Drastik und zu starke Nähe.
Sich einmal Luft machen, den Weg frei schießen. Go, go, go! Zwischen Kinderspielen und Ego-Shooter-Fantasien entsteht ein Amoklauf-Szenario. Das Erschreckende ist die Leichtigkeit, mit der Kinder hier Grenzen überschreiten. Freyer fängt mit seinem Stück Gefühle ein und liefert keine Botschaft, das macht das schwierige (Jugend-)Stück schmerzhaft und grausam. "Seltsame Menschen, die eure Kinder sind. Seltsame Kinder, die euch plötzlich durch die Köpfe schießen." Applaus, Nachdenklichkeit zur Premiere.
Vollständige Kritik als PDF-Datei herunterladen (173.19 KByte)
Schülerstühle schweben Spielplatzschaukeln gleich über dem Boden. Auf ihren Sitzflächen ruhen Kinderpuppen und Teddys. Stille erfüllt den Raum. Doch es ist keine entspannende Stille, die die Besucher beim ersten Bild (Bühne: Valentina Crnkovic) einfängt, eher eine, die bedrückt. Noch erschließt sich nicht, warum die Stühle Nummern tragen und ihre Anordnung an das „in Reih und Glied“ einer militärische Truppenkonfiguration erinnert. Gut eine halbe Stunde später aber wird man von der wahren Bedeutung dieses Bildes in den Würgegriff genommen.
Was bewegt Schüler dazu, Amok zu laufen? Die Antwort wurde auf der Bühne nicht gegeben. Und das ist des Autors Absicht und richtig, denn gemessen am finalen Grauen wäre eine simple Ursache-Wirkung-Darstellung nicht zu akzeptieren. Die Texte, die die drei großartigen Darsteller (Anke Stedingk, Frank Richartz, Thomas Sprekelsen) mit eindringlicher und schockierender Präsenz füllten, bieten Anhaltspunkte - Motive, die anzunehmen man gewillt wäre.Vollständige Kritik als PDF-Datei herunterladen (72.19 KByte)
Foto
Darsteller
Anke Stedingk, Frank Richartz, Thomas Sprekelsen